St. Heinrich – Wittenberge
Die katholische Kirchengemeinde St. Heinrich mit ihrer Pfarrkirche in Wittenberge besteht seit 1853 und gehört zum Erzbistum Berlin. Sie liegt im südwestlichen Teil der Prignitz und ist die einzige an der Elbe gelegene Pfarrei der Diözese. Sie erstreckt sich rechtsseitig der Elbe 60 km lang von Havelberg (dort, wo die Havel in die Elbe mündet) bis hinter Lenzen.
Am 1. November 1539 vollzog Joachim II., Kurfürst von Brandenburg den Bruch mit der katholischen Kirche (sog. „Spandauer Abendmahl“). Dies war der Beginn der Reformation in der Mark Brandenburg. Das katholische Leben in der Prignitz erlosch nun für fast 300 Jahre vollständig.
Die ersten Katholiken nach der Reformation waren Zuwanderer: Handwerker aus dem Eichsfeld, Arbeiter aus Schlesien und Kaufleute aus Westfalen. Sie kamen nach Wittenberge, als dort im Jahr 1823 die Ölmühle gebaut und mit ihr die Industrialisierung der Stadt eingeleitet wurde. Die wenigen Wittenberger Katholiken waren der Missionspfarrei in Neuruppin zugeordnet, die 1849 gegründet worden war. Neuruppin aber war 80 km entfernt: Wer einen katholischen Gottesdienst besuchen wollte, fuhr somit lieber in das nahegelegene Ludwigslust (44 km), nach Stendal (53 km) oder nach Schwerin (78 km). Erst 1853 wurde in Wittenberge eine eigene katholische Gemeinde gegründet.
Der entscheidende Anstoß dazu wurde wohl gegeben durch den Bau der Bahnlinie Magdeburg-Wittenberge. Für die Überquerung der Elbe wurde in den Jahren 1847–1851 eine Holzbrücke gebaut. Unter den Arbeitskräften war ein gewisser Salomo Beck, ein Katholik aus dem Eichsfeld. Dieser wurde in Wittenberge ansässig und holte seine gesamte Familie hierher. Seiner Ehefrau, Margarethe Beck, gefiel es in Wittenberge überhaupt nicht, denn es gab hier kein katholisches Gemeindeleben, keinen regelmäßigen katholischen Gottesdienst, keinen katholischen Pfarrer und keine katholische Kirche. Also drängte sie ihren Ehemann, sich um eine Besserung der Situation zu bemühen. Salomo Beck sammelte also die in Wittenberge lebenden Katholiken, gründete einen Kirchenvorstand und bewirkte, daß am 30. Oktober 1853 in Wittenberge zum erstenmal nach der Reformation wieder eine katholische Hl. Messe gefeiert werden konnte und sich eine katholische Gemeinde konstituierte. Den ersten Gottesdienst hielt der Berliner Missionsvikar Eduard Müller. Versammlungsort der Katholiken war die Wohnung des evangelischen Wittenberger Arztes Dr. Loesch und seiner katholischen Ehefrau in der Burgstr. 24.
Kirchlich gehörte Wittenberge damals zum Delegaturbezirk des Breslauer Fürstbischofs Heinrich Förster. Weil der Vorname des Bischofs Heinrich lautete und dieser am 30. Oktober 1853 zum ersten Mal die Mark Brandenburg besuchte, war die Wahl des Patrons der neuen katholischen Gemeinde nicht schwer: Der heilige deutsche Kaiser Heinrich II., der Namenspatron des Bischofs, wurde zum Patron der Gemeinde und zum Patron der 45 Jahre später erbauten Pfarrkirche.
Die katholische Gemeinde Wittenberge war zunächst eine priesterlose Gemeinde. Ein Wittenberger Schneidergeselle erteilte den Kindern Katechismusunterricht und versammelte die Gemeinde zu Gebetsgottesdiensten. Engagierte Laien, besonders Frauen, organisierten das Gemeindeleben. Die Heilige Messe wurde alle 6 Wochen von dem Berliner Vikar Müller gehalten, bisweilen auch vom Pfarrer aus Ludwigslust. Im Dezember 1853 wurde der erste Kirchenraum eingerichtet im gemieteten „Gasthof zur Sonne“, in der Steinstr. 47 gegenüber dem evangelischen Pfarrhaus. Nachdem der Gasthof geschlossen worden war, zog die katholische Kirche „in die Katakomben“: Sie mietete den Keller einer alten Tabakfabrik in der Chausseestr. 2. Eine Kröte, so berichtet die Chronik, kroch an diesem feuchten Ort während der Beichte einer Frau unter den Rock. Salomo Beck sah sich nach einem neuen Domizil um. Der „Gasthof zur Stadt Breslau“ in der heutigen Perleberger Str. 164 stand zum Verkauf. Salomo Beck drängte die Berliner Kirchenaufsicht dazu, dieses Grundstück unbedingt zu erwerben. Finanziert wurde der Kauf größtenteils durch Spenden. Sogar der Bayernkönig Ludwig I. gab 100 Gulden dazu. Vermutlich hat er wie viele andere Wittenberge mit der Lutherstadt Wittenberg verwechselt, deren Rekatholisierung er vielleicht fördern wollte. Im Tanzsaal des Gasthofs wurde am 2. September 1854 der neue Gottesdienstraum eingerichtet. Samuel Beck entdeckte bei einem Altwarenhändler in Hamburg ein Kruzifix, das er für diesen Kirchenraum erwerben wollte. Weil er zu wenig Geld bei sich hatte, versetzte er seine Uhr. 1856 bekamen die Wittenberger Katholiken ihren ersten Pfarrer: Julius Winkler, der außerdem noch zuständig war für die Filialen Perleberg, Havelberg und Pritzwalk. Die Wittenberger Gemeinde war noch keine Pfarrei, sondern Missionsstation. Mission bedeutete: Sammlung der zerstreut lebenden Katholiken zu einer Gemeinde.
In Wittenberge lebten damals 64 Katholiken. Zur Unterrichtung ihrer Kinder gründete Julius Winkler 1857 die Wittenberger Katholische Volksschule als Privatschule mit nur einem Lehrer. Diese Schule hat sich im Laufe der Jahre stark vergrößert. 1899 zog sie auf das heutige Grundstück in der Perleberger Str. 164 um 1923 wurde sie zu einer öffentlichen vierklassigen Schule und umfaßte ca. 140 Schüler, die nun von 3 Lehrkräften unterrichtet wurden. Die Schule existierte bis zum 6.Mai 1939, bis zur gewaltsamen Schließung durch die NS-Diktatur.
Im Jahr 1858 wurde die Wittenberger Missionsstation zur Missionspfarrei erhoben. 1859 erhielt der bisherige provisorische Kirchenvorstand (mit Salomo Beck als Mitglied) die kirchliche und staatliche Anerkennung und wurde am 14.08.1859 feierlich vereidigt.
Im Jahre 1867 wurde Perleberg eigenständige Pfarrei und aus der Pfarrei Wittenberge ausgegliedert (bis 2004). Anstelle von Perleberg wurde dem Wittenberger Pfarrer die Seelsorge in Kyritz übertragen (1867 bis 1905). Die katholische Gemeinde vergrößerte sich rasch. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1880 hatte die Stadt Wittenberge 9.711 Einwohner, davon 274 Katholiken. Zehn Jahre später hatte sich die Zahl der Katholiken fast verdoppelt: 535 von 12.587 Einwohnern. Am 19.März 1891 erhielt die Missionspfarrei St. Heinrich die staatliche Anerkennung, wurde vollberechtigte Pfarrei und als solche von der königlichen Regierung bestätigt.
Die Initiatorin der katholischen Gemeinde, Margarethe Beck, starb am 26.07.1886. E i n Wunsch war ihr unerfüllt geblieben: der Bau einer katholischen Kirche in Wittenberge.
Im Jahr 1893 begannen die Vorbereitungen dazu: Der alte Kirchenraum (der Tanzsaal des ehem. Gasthofes) war nicht mehr ausreichend. Für einen Neubau wurde das Nachbargrundstück (zur heutigen Friedrich-Ebert-Straße hin) dazugekauft. Auf diesem höchsten Punkt von Wittenberge errichtete Pfarrer Konrad Prießnitz die katholische Kirche St. Heinrich als neoromanischen Backsteinbau mit einem 42 Meter hohen Turm. Die Kirche erhielt später eine reiche Innenausstattung in barockem Stil. Der Baumeister, Wilhelm Daßler aus Oranienburg, war evangelisch: deshalb auch der sehr kleine Sakristeiraum. Der Rohbau der Kirche kostete 47.000 Mark.
Auf der Grundsteinurkunde von 1896 ist folgendes vermerkt: Die Stadt Wittenberge hat 16.000 Einwohner, wird geleitet von Bürgermeister Nedwig, die Pfarrei hat gegen 1.550 Mitglieder, davon 550 in Wittenberge. Pfarrer ist Konrad Prießnitz, Fürstbischof von Breslau ist Kardinal Dr.Kopp, Wilhelm II. ist Kaiser und Leo XIII. ist Papst. Die Chronik vermerkt, daß bei der Grundsteinlegung 1896 auch viele evangelische Christen teilnahmen. Das Verhältnis der katholischen Christen zur evangelischen Gemeinde in Wittenberge wird stets als sehr gut beschrieben (anderswo wie z.B. in Perleberg war das nicht selbstverständlich).
Am 21. Juni 1898 wurde die St.-Heinrich-Kirche feierlich eingeweiht. Es wurden 700 Eintrittskarten vergeben, die aber nicht ausreichten. Der „Gründervater“ der Pfarrei, Salomo Beck, erlebte als 80-jähriger dieses Ereignis mit großer Freude mit. Fünf Tage später starb er (am 26.06.1898).
Die Wittenberger katholische Kirche ist bis heute die einzige H e i n r i c h – Kirche im Bistum Berlin und im Bundesland Brandenburg.
1905 wurde auf dem Kirchengrundstück neben dem Schulgebäude das Pfarrhaus errichtet. Die Einweihung geschah am 7. Juni 1906. Dieser repräsentative Bau gilt bis heute als schönstes Haus in der Perleberger Straße. Im 2.Weltkrieg wurde die Kirche bei einem Luftangriff am 10.April 1945 bis auf die Ringmauern zerstört. Am Festtag des Hl. Heinrich, am 13.Juli 1945, konnte wieder „in der Kirche“, d.h. innerhalb der Ringmauern, aber unter freiem Himmel der Gottesdienst gefeiert werden. Pfarrer Jacob Bolwin (1922-1965) betrieb energisch den Wiederaufbau der Kirche. Am Weihnachtsfest 1948 war die Kirche wieder voll nutzbar. Die 18 m hohe Turmspitze, die einst das Stadtbild Wittenberges mitgeprägt hat, fehlt bis heute. 2006 wurde der „Förderverein zum Wiederaufbau des zerstörten Kirchturms der katholischen Kirche Wittenberge e.V.“ gegründet.
Pfarrer Bolwin war 43 Jahre lang Pfarrer der Gemeinde und ein überaus geschätzter Seelsorger. Unterstützt in seiner seelsorglichen Arbeit wurde er durch insgesamt 10 Kapläne, durch seine Schwester, die als Lehrerin an der kath. Schule tätig war, und durch die Breslauer Marienschwestern, die in den Jahren 1919–1951 eine Niederlassung auf dem Pfarrgrundstück (im Schulgebäude) hatten.
Sein Nachfolger, Pfarrer Gerhard Kuhn (1965-1997), führte das Wiederaufbaukonzept seines Vorgängers nicht weiter, sondern betrieb seit 1972 die bis heute sehr umstrittene Modernisierung und Verfremdung des Kircheninnenraumes: die bleiverglasten Kirchenfenster wurden durch industrielle Glasbausteine ersetzt, die Rundbögen begradigt, die Decke tiefergehängt, die Orgelempore abgerissen, das Hauptportal zugemauert.
Entgegen dem ursprünglichen Baukonzept (Basilika mit Ausrichtung zur Apsis hin) bekam der Raum nun eine Quer-Ausrichtung: Der Altar wurde an die Längswand gestellt, die Sitzbankgruppen im Halbkreis angeordnet. Der Dresdner Bildhauer Friedrich Press (+1990) schuf aus rohem grauen Beton in abstrakter Form vier Wandskulpturen (Die Passion Christi), den Altar (das Grab Jesu) und die Tabernakelsäule (Himmelfahrt Christi). Ebenfalls von Friedrich Press stammt das Lesepult (aus Edelstahl). Zuletzt (1985) schuf er das Taufbecken (Beton und Edelstahl) und die Monstranz (Kunstglasplatten mit Edelstahlfuß). Im selben Jahr 1985 wurde auch die neue Orgel in der Kirche ebenerdig aufgebaut (Fa. Schuke, Berlin).
Der grau-eintönige Kirchenraum erhielt eine farbige Gestaltung durch Pfarrer Boto H. Mey (1997–2004). Der Raum wurde 1998 ausgestattet u.a. mit 15 farbigen Kreuzwegtafeln (mit Apostelleuchtern) und einem Altartriptychon. Sämtliche Bilder (in Kopie) stammen vom zeitgenössischen Maler und Priester Sieger Köder. Diese neue Ausstattung nimmt bewußt Stilelemente des Beton-Ensembles auf und knüpft an seine Thematik an. Im Jahr 2000 wurde der zugemauerte Haupteingang der Kirche wieder geöffnet und das Portal rekonstruiert. Am 1. November 2006 wurde der neugeschaffene Heinrichsaltar im Apsisraum der Kirche feierlich eingeweiht.
Das Expositorium des Altars zeigt die Skulpturen Heinrich und Kunigunde (Bamberger Dom, Südostportal), in der Mittelnische ist ausgestellt ein Kreuzreliquiar (aus Bamberg) mit einer Primärreliquie des Hl. Heinrich. Der sonntägliche Gottesdienst in der Pfarrkirche wird heute regelmäßig von circa 100 Gläubigen besucht. Die St.-Heinrich-Kirche ist die zentrale Pfarrkirche für die Katholiken in Wittenberge, Perleberg, Lenzen, Karstädt, Bad Wilsnack und Havelberg. Die letztgenannten 5 Städte besitzen außerdem eigene Gottesdienstorte. Die Gesamtzahl der Kirchenmitglieder beträgt 1.500, davon in Wittenberge ca. 600. Pfarrer ist seit 1. Oktober 2004 Bertram Pricelius mit Wohnort in Perleberg und dem Pfarrbüro daselbst. Pfarrer Bertram Pricelius ist der 12. Pfarrer der Gemeinde seit 1856.